Kapitel 4
„Hilary, wach auf!“
Jemand rüttelte mich an meinen Schultern. Noch halb im Schlaf, murmelte ich etwas Unverständliches und öffnete dann meine Augen. Sonnenlicht durchflutete den Raum und schien auf die Betten der anderen Mädchen. Sofort erinnerte ich mich: Heute begann ja mein drittes Schuljahr in Hogwarts!
Vor meinem Bett stand Hanna, meine beste Freundin, seit meinem ersten Schuljahr. Sie war wahrscheinlich diejenige gewesen, die mich gerade eben so unsanft geweckt hatte.
Zu meinem großen Entsetzen sah ich, dass sie bereits vollständig angezogen war und zudem auch schon frisierte Haare hatte.
Geschockt fuhr ich hoch. „Habe ich verschlafen!“, rief ich alarmiert aus. Ich konnte mich wage erinnern, auch schon im letzten Jahr am ersten Unterrichtstag beinahe zu spät gekommen zu sein, weil ich nicht früh genug aufgestanden war.
Ich ließ meinen Blick durch den Schlafsaal schweifen. Die anderen Betten waren bereits tadellos gemacht, außer Hanna und mir befand sich keiner mehr im Raum.
Hanna sah mich ernst an. „Hilary... in einer Minute beginnt der Unterricht“, verkündete sie mit unheilvollem Unterton.
„Was!“, quiekte ich entsetzt. Mit einem Satz war ich auf den Beinen. „Warum hast du mich nicht ein bisschen früher geweckt? Was haben wir denn jetzt überhaupt für ein Fach? Sind die anderen Schüler schon im Unterricht? Das Frühstück ist ja demnach auch schon vorbei...“ In Windeseile zog ich mir meine Schuluniform an, wobei mir in meiner Panik weder auffiel, dass ich zwei ungleiche Socken angezogen hatte, noch, dass mein Umhang auf links gedreht war.
„Du hast so fest geschlafen, da war nichts zu machen.“ Hanna stand noch immer neben meinem Bett. Ich sah sie verwirrt an. „Und was wäre mit einem Zauberspruch gewesen?“ Ich ließ ihr keine Zeit zum Antworten, sondern stürmte gleich in eines der angrenzenden Badezimmer, um mir die Haare zu bürsten. Dabei übersah ich komplett die am Boden verteilten Koffer, und stolperte prompt darüber. Mit einem dumpfen Knall landete ich auf dem zugegebenermaßen ziemlich schmutzigen Boden.
„Hilary, ist alles okay?“ Hanna rannte zu mir und sah mich entsetzt an. „Hast du dich verletzt?“ Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, mir geht es gut, lass uns jetzt lieber...“ Ich brach ab. Mein Blick fiel auf meine Armbanduhr, welche auf meinem kleinen Nachttisch lag.
Es war früh am Morgen, der Unterricht würde erst in fünfundvierzig Minuten beginnen.
Hinter mir hörte ich ein lautes Prusten, und als ich mich umdrehte, sah ich Zoé, die aus dem Kleiderschrank, in welchem sie sich augenscheinlich versteckt hatte, hervorkam. Hanna begann zu kichern.
Ich lief rot an. „Ihr Biester!“, rief ich, jedoch musste ich gleichzeitig auch lachen.
Die beiden hatten mich gründlich hinters Licht geführt.
Hanna setzte eine besorgte Miene auf. „Es war nicht Teil des Planes, dass du dich verletzt. Bist du dir sicher, dass alles okay ist?“ Ich nickte und stand auf.
„Ihr seid so gemein“, beschwerte ich mich spaßeshalber und klopfte mir den Dreck von meinem Rock.
Zoé grinste. „Wusstest du, dass du jedes Jahr am ersten Schultag so spät aufgewacht bist? Jedenfalls hat Hanna mir das erzählt. Und weil wir heute Morgen sehr früh aufgewacht sind, dachten wir, dass es Zeit wäre, dich ein bisschen reinzulegen.“ Lachend umarmte sie mich. „Sei jetzt nicht sauer.“
Ich setzte eine gespielt böse Miene auf, musste aber zwischendurch schmunzeln. Natürlich hatte ich meinen Freundinnen schon längst verziehen.
Immerhin war ich jetzt hellwach.
Nachdem wir uns alle wieder etwas beruhigt hatten, gingen wir gemeinsam in die große Halle zum Frühstück.
Auf dem Weg dorthin trafen wir auch Teddy Scamander mit einigen seiner Freunde aus Hufflepuff. Hanna, die sehr schwungvoll um die Ecke gebogen war, wäre fast in Teddy hineingelaufen, konnte sich aber zum Glück noch rechtzeitig abfangen.
Eigentlich war Hanna ja nicht besonders tollpatschig und das Ereignis nur ein blödes Missgeschick, doch Hanna war die Situation sichtbar peinlich, und sie vermied es, Teddy auf dem Weg in die große Halle auch nur einmal anzusehen.
In der großen Halle saßen bereits viele Schüler an den Tischen und frühstückten.
Ich ließ mich neben Hanna auf die lange, hölzerne Bank fallen. „Ich bin ja gespannt, welche Fächer wir heute so haben werden“, murmelte ich, während ich mir ein Toastbrot schmierte. „Stimmt, wir bekommen ja heute unseren Stundenplan!“, rief Hanna begeistert aus. „Ich hoffe, dass wir heute gleich ein paar der neuen Wahlfächer haben werden. Pflege magischer Geschöpfe wäre doch cool, schließlich haben wir heute so schönes Wetter.“ Sie deutete an die Decke der großen Halle, wo man den schönen blauen Himmel sehen konnte. „Ja, das wäre gut“, seufzte ich. Beim Gedanken an die neuen Fächer verspürte ich gleich ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch. „Oh, schau- die Stundenpläne kommen.“ Dutzende Blätter Pergament flogen durch die Luft und verteilten sich auf die einzelnen Schüler entlang der Haustische. Ich warf einen Blick auf meinen und seufzte. Die ersten beiden Stunden hatten wir Zaubertränke. Bei Snape. Na toll. Ich war zwar gut in Zaubertränke, doch auf Professor Snapes eisige Blicke und strenge Arbeitsanweisungen konnte ich gut verzichten. Hanna neben mir verzog das Gesicht. Zaubertränke gehörte nicht zu ihren Stärken. Dafür war sie allerdings ein Talent in Verteidigung gegen die dunklen Künste und in Fächern wie Kräuterkunde schlug sie mich um Längen.
Apropos Kräuterkunde: Das würden wir im Anschluss an Zaubertränke haben, gefolgt von unserer ersten Stunde Wahrsagen. Aufgeregt sah ich hinüber zum Lehrertisch. Die Wahrsagelehrerin hatte ich bis jetzt erst ein oder zweimal gesehen, jedoch immer nur aus einiger Entfernung. Ein paar Fünftklässler hatten mir allerdings erzählt, dass sie sich meistens in ihrem Turm befand. Auch heute sah ich sie nicht bei den anderen Lehrern sitzen.
Neben den neuen Fächern war an diesem Morgen natürlich das Trimagische Turnier das Hauptthema an den Haustischen. Alle Schüler diskutierten laut miteinander.
Leeve Wild, der neben Hanna saß, sah bedauernd drein. „Ich verstehe nicht, warum man an einer Schule, an der so viele Schüler verschiedenen Alters sind, ein Turnier veranstaltet, bei dem nur die Ältesten die Chance haben, mitzumachen“, maulte er und biss wütend in sein Brot. „Sie hätten ja auch einfach die Aufgaben so gestalten können, dass sie nicht gefährlich sind, und jeder theoretisch teilnehmen kann.“
Auch viele andere Ravenclaws teilten seine Meinung. Vor allem Schüler in den Jahrgangsstufen 5 oder 6, die das Mindestalter noch nicht ganz erreicht hatten, waren unzufrieden, und scheuten sich nicht davor, laut über die Veranstalter des Turniers zu schimpfen. Ich vermutete, dass die meisten gerne gezeigt hätten, was sie konnten, gerade wenn Schüler der anderen Zauberschulen zusahen. Ich, die mit nur 13 Jahren natürlich viel zu jung war, um teilzunehmen, konnte das zwar verstehen, allerdings war mir die Lust an einer Teilnahme schon vergangen, als Dumbledore gestern die zahlreichen Todesfälle bei vergangenen Turnieren erwähnt hatte.
Wir frühstückten eilig, damit wir nicht zu spät zu Zaubertränke kommen würden.
„Zaubertränke haben wir zusammen mit den Slytherins“, informierte mich Hanna, als wir die große Halle verließen und zu den Kerkern liefen. Ich seufzte. Das schien mir kein besonders gutes Omen, aber ich beschloss, es einfach zu ignorieren.
Zaubertränke verlief wie gewohnt: Snape lobte die Tränke der Slytherins, verzog bei Hannas Trank verächtlich den Mund und lief an meinem wortlos vorbei, was mir zeigte, dass er nichts daran auszusetzen hatte. Kräuterkunde war furchtbar, wie schon immer. Wieder einmal bewies sich, dass ich definitiv keinen grünen Daumen hatte. Während ich verzweifelt versuchte, meine fleischfressende Pflanze mit ein paar toten Fliegen zu füttern, riss die mir fast den Daumen ab. Am Ende der Stunde lieferte ich meine ziemlich demolierte und noch immer wild um sich schnappende Pflanze bei Professor Sprout ab, die mich missbilligend musterte und mit hochgezogener Augenbraue etwas auf ihrem Klemmbrett notierte.
Verständlicherweise war meine Stimmung nach der Stunde deshalb ziemlich am Boden. Nach einem kurzen Besuch bei Madam Pomfrey, um meinen Daumen zu heilen, trotte ich ziemlich niedergeschlagen neben Hanna her. Die war weniger betrübt. „Ich freue mich schon ziemlich auf Wahrsagen“, plapperte sie. “Vielleicht lernen wir ja jetzt, wie wir unsere Träume deuten können und anderen aus der Hand lesen können. Letzte Nacht habe ich von einem Drachen geträumt, auf dem ich nach Hogwarts geflogen bin. Ich hoffe mal, dass das nicht bedeutet, dass ich bald mal einem begegnen werde- der in meinem Traum war ja ganz freundlich, aber glaub mir, in echt sind sie ziemlich gefährlich. Jedenfalls...“ Sie kam nicht dazu, ihren Satz zu vollenden, weil ich plötzlich von hinten heftig angerempelt wurde. Ich verlor das Gleichgewicht und klammerte mich an Hanna fest, um nicht umzufallen. „Pass doch auf!“ Wütend sah ich mich um, damit ich sehen konnte, wer mich gestoßen hatte.
Neben mir stand... Sarina Lee.
Ich war so verblüfft, dass ich zunächst gar nichts sagte.
In meinem ersten Schuljahr hatte Sarina mich oft geärgert und sehr herablassend behandelt. Ich musste damals unzählige fiese Sticheleien ihrerseits hinnehmen, und einmal hatte sie mich sogar ein „Schlammblut“ genannt. Ich hatte damals nicht gewusst, was sie damit meinte. Aber mittlerweile hatte ich begriffen, dass bestimmte Zauberer und Hexen Muggelgeborene als „schlechter“ ansahen, vor allem diejenigen, die selber Reinblüter waren, also ohne direkte Muggelvorfahren. Glücklicherweise kannte ich außer Sarina, ihrem Zwillingsbruder Felix und Kylie Lentra (eine Gryffindor meines Jahrgangs) keinen, der so dachte. Dass Sarina mich damals so behandelt hatte, hatte ich natürlich nicht wehrlos hingenommen, und wir hatten uns ziemlich oft gestritten.
Aber das lag alles mindestens ein Jahr zurück. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich Sarina schon ewig nicht mehr gesehen hatte. Außerdem sah sie anders aus, als ich sie in Erinnerung hatte: Sie war größer geworden, außerdem viel dünner. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, als hätte sie tagelang nicht geschlafen. Sie hatte sich so sehr verändert, dass ich den Blick nicht von ihr abwenden konnte. „Was machst du denn hier?“, platze Hanna heraus. Ich nahm an, dass auch ihr nicht entgangen war, dass wir Sarina im letzten Jahr kaum gesehen hatten. Sarinas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Ich geh‘ hier zur Schule, genau wie du“, entgegnete sie bissig. „Warum schaut ihr so blöd? Findet ihr mich so toll, dass ihr nicht anders könnt!“
„Eher weniger“, murmelte ich. Im selben Moment fiel mir auf, was an Sarina fehlte: Ihr Zwillingsbruder, Felix Lee, der nicht minder arrogant wie seine Schwester war. Soweit ich mich erinnern konnte, waren sie stets gemeinsam herumgelaufen, meistens sogar noch begleitet von anderen Slytherins. Beide waren unzertrennlich gewesen, wie es sich nunmal für echte Zwillinge gehörte.
Ich wollte Sarina gerade danach fragen, aber Hanna war schon wieder schneller. „Wo ist eigentlich dein Bruder?“, fragte sie. Sarina, die sich eigentlich schon zum Gehen gewandt hatte, drehte sich blitzschnell um, wobei ihr langes blondes Haar wild durch die Luft flog.
Während sie uns zuvor nur spöttisch und abwertend angesehen hatte, lag in ihren Augen auf einmal ein seltsamer Glanz. Ihr gesamtes Gesicht war verzerrt, und ihre Stimme mit einem Mal seltsam rau.
„Hanna Stewart und Hilary Shine“, sagte sie. Ihre blauen Augen glitzerten gefährlich, als sie langsam auf uns zukam. „Es geht euch weder an, was ich mache, noch was mein Bruder macht. Und wenn ihr klug seid, dann lasst ihr uns in Zukunft einfach in Ruhe, ja?“
Ich sah sie verblüfft an. „Das war doch nur eine Frage“, versuchte ich sie zu besänftigen.
„Ja, eine Frage, die sich mit den Angelegenheiten anderer befasst“, fauchte Sarina.
„Wenn ihr vorhabt, noch ein paar Jahre an dieser Schule zu bleiben, dann hört auf damit, überall eure Nasen hineinzustecken. Ich weiß, dass du dir“, sie wies mit dem Zeigefinger auf mich, „besonders toll vorkommst, weil du in der Kammer des Schreckens warst, und ich weiß auch, was letztes Jahr passiert ist.“ Sie lachte höhnisch. „Du willst die kleine Heldin spielen, genau wie dieser Vollidiot Potter. Aber du wirst schon sehen, was irgendwann mit so kleinen Schlammblütern wie die passiert.“
Ich sah sie schockiert an, und Hanna stieß einen leisen Schrei aus. „Wenn du sie noch einmal so nennst...“
Sarina sah uns hasserfüllt an. Dann, mit einem Mal drehte sie sich um und lief den Gang davon.
Kochend vor Wut starrte ich ihr hinterher. Allein die Tatsache, dass wir uns in der Schule befanden, hielt mich davon ab, ihr einige unschöne Dinge hinterzurufen. „Diese hinterhältige, arrogante Ziege!“, schimpfte Hanna zornig. „Was fällt ihr ein, dich so zu nennen, wir sollten zu Professor Flitwick gehen, oder zu Professor McGonagall, wenn sie davon wüssten, dann wäre Sarina die, die bald nicht mehr auf der Schule ist- oh Gott, ich bin so wütend- wie kann sie nur! Wir müssen zu einem Lehrer gehen, jetzt gleich am Besten.“
Obwohl ich ziemlich gerührt davon war, wie sich Hanna für mich einsetzte, schüttelte ich den Kopf. Das Letzte, was ich wollte, war, dass Sarina den Eindruck hatte, ich könnte mich nicht selbst wehren.
Hanna schwieg, ich konnte ihr aber ansehen, dass es ihr lieber gewesen wäre, wenn ich zu einem Lehrer gegangen wäre.
„Ist es nicht komisch, dass wir sie so lange nicht gesehen haben?“, fragte ich sie stattdessen.
Hanna sah mich aufgeregt an. „Genau das habe ich mich auch gefragt. Wenn ich so darüber nachdenke, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass wir sie die ganze Zeit lang nicht bemerkt haben. Gerade auch wegen dem, was vorletztes Schuljahr geschehen ist.“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. „Wenn du mich fragst... Sie und Felix müssen die Schule verlassen haben...“
„... und uns ist es einfach nicht aufgefallen“, vervollständigte ich den Satz. „Vermisst habe ich sie jedenfalls nicht. Aber warum verlässt man einfach für ein Jahr die Schule, und kommt dann wieder?“
Hanna zuckte mit den Schultern. „Es muss etwas Wichtiges sein. Für so etwas braucht man schon einen besonders guten Grund. Schließlich muss sie ja irgendwie auch die Versetzungsprüfungen bestehen. Außerdem darf nicht jeder soll diesen Grund erfahren. Du hast gehört, was sie gesagt hat: Ihre Angelegenheiten gehen uns nichts an, und wenn wir uns da einmischen, dann...“
„...fliegen wir von der Schule, ja klar. “ Ich lachte spöttisch. „Ich bezweifle, dass das passieren würde. Ich meine, das bestimmt immer noch Dumbledore, oder nicht?“
Hanna wollte gerade antworten, als ich auf meine Armbanduhr sah und erschrocken aufsah.
„Hanna, wir sind zu spät für Wahrsagen!“
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