8. Kapitel
Katniss
Piep. Piep. Piep. Ich höre das Piepen, ich habe es schon mehrfach gehört, als ich in Distrikt 13 war. In der Krankenstation. In mir steigt Panik auf: Ist wieder eine Bombe hochgegangen? Doch ich schaffe es mich zu beruhigen. Das Piepen und mein Herzschlag sind genau im selben Takt, ich zähle einfach mit…Eins, Zwei, Drei… Bei einhundert fange ich wieder von vorne an. Eins, Zwei, Drei… Ich habe meine Augen immer noch nicht geöffnet, das Licht ist wahrscheinlich auf ein Minimum heruntergefahren, doch durch meine geschlossenen Augenlieder wirkt es für mich so, als würde ich direkt in die grelle Sonne blicken. In meinem Unterleib pocht es schmerzhaft, ich kann mich gerade noch daran erinnern, dass es bei einer Rede, die ich nicht einordnen kann, genauso weh getan hat, und dass es plötzlich ganz schlimm wurde, ich weiß nicht, wieso. Plötzlich geht die Tür auf, ich höre, wie jemand mit leisen Schritten durch den Raum geht. Wenn man genau hinhört, dann erkennt man aber auch, dass ein Bein nicht das Richtige ist, es muss Peeta sein. Peeta bleibt immer noch leise, als er sich einen Stuhl an mein Krankenbett heranschiebt und mit seinen rauen Händen meine linke Hand umschließt. Jetzt habe ich keinen Zweifel mehr, es muss Peeta sein, denn nur er hat eine so beruhigende Wirkung auf mich. Meine Panik, die die gesamte Zeit versucht hat an die Oberfläche zu dringen, ist versiegt und ich werde ruhig, ja in einen beinahe meditativen Zustand versetzt. Wir verharren so einige Momente, Peeta streicht beruhigend über meine Hand und ich zähle die Atemzüge, wir atmen fast synchron. Dann öffne ich die Augen, nur ganz leicht, ich habe Angst vor dem grellen Licht. Als erstes sehe ich die Zimmerdecke, sie ist mit Holz verkleidet, helles Holz mit dunklen Flecken, dort, wo sich am Baum noch Äste befunden haben, wahrscheinlich das Holz einer Birke. Dann hebe ich leicht den Kopf, er pocht auch, aber längst nicht so schmerzhaft, wie mein Unterleib. Die Wände sind weiß verputzt und es wurden bunte Bilder aufgehängt, der Boden ist mit einem Teppich ausgelegt, es sieht sehr kuschelig aus. Ich spüre, dass Peeta mir sanft durchs Haar streicht und meinen Namen wispert. „Katniss…“ Er hört sich irgendwie erleichtert an, aber in seiner Stimme schwingt auch etwas Trauer mit, wieso nur? Vorsichtig wende ich meinen Kopf zu ihm, sein Gesicht ist bleich und er wirkt abgekämpft, und doch bringt er noch ein Lächeln für mich zustande. Ich bin so froh, dass ich ihn habe, ich brauche ihn…Dies ist wieder einer dieser Momente, in denen ich mich selbst dafür hasse, dass ich das nicht früher begriffen habe, aber das ist jetzt nicht mehr zu ändern. Ich muss die Zeit, die ich jetzt mit ihm habe genießen und darf nicht an unsere früheren Zeiten zurückdenken. Ich lächle zurück und hebe meinen Kopf, um ihn zu küssen. Doch er drückt mich wieder zurück in die Kissen und gibt mir einen leichten Kuss auf die Stirn. „Katniss, du musst dich schonen“, flüstert er. Ich bin noch komplett verwirrt. „Was ist denn passiert?“, frage ich mit irritierter Stimme. Ich kann mich nur an die schlimmen Schmerzen in meinem Unterleib erinnern, mehr weiß ich nicht. Für einen kurzen Moment ist es still im Raum, doch dann hört man Peeta seufzen. „Wusstest du, dass du schwanger bist?“ Schwanger. Seine Stimme scheint im Raum widerzuhallen. Schwanger. Ein Gefühlsstrudel überrollt mich. Ständige Übelkeit. Sehnsucht zu meiner Familie. Die Trauer um all die Toten, die mich die letzten Tage des übermannen wollte. Die Schmerzen, die immer noch in meinem Körper wiederhallen und vor einigen Stunden noch viel stärker waren, kaum aushaltbar. Ich nicke leicht und er fährt sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Ich habe es auch vermutet…“, gesteht er. „Du hast eines noch bei der Ernte verloren“ Es ist wie ein Schlag in meine Magengrube, ich empfinde nur den Schmerz dort. Sonst bin ich nur erstarrt. Es ist unfassbar. Ich habe erst vor knapp einem Tag erfahren, dass wir noch ein Kind bekommen werden, und ich war mir dabei noch nicht einmal sicher. Ich habe mir gewünscht, dass ich erst später schwanger geworden wäre, so hätte mein ungeborenes Kind nicht in die Spiele gemusst. Ich kann es nicht ertragen, eines meiner Kinder, ob nun geboren oder noch ungeboren, bei den Spielen dabei sein müssen. Ich bin so getroffen, dass ich erst nur an diesen einen Satz denken kann: „Du hast eines noch bei der Ernte verloren“. Auf einmal werde ich stutzig: Nur eines soll ich verloren haben? „Nur eines“, frage ich auch Peeta. „Ja“, antwortet er, „Das andere lebt noch bei dir.“ Die Zahnrädchen in meinem Hirn beginnen, sich wieder zu drehen. Eines lebt noch, eines hat noch die Chance diese Welt kennenzulernen. Ich bin dankbar, es waren Zwillinge. Peetas und meine Zwillinge. Doch ich bin auch betroffen: Jetzt muss dieses kleine Wesen in mir in die Spiele, es wir schwer werden, auf es aufzupassen. Aber ich muss es schaffen. Dieser Kleine hier ist ein Kämpfer, er hat es definitiv verdient zu leben. Und jetzt ist es meine Aufgabe auf ihn aufzupassen. Dies ist eine Aufgabe, die ich schaffen muss! Des klopf an der Tür und Effie kommt gefolgt von Haymitch in den Raum gestürmt. „Süße, wir haben ein Problem“, sagt er. Er scheint es erst zu meinen, seine Augen glitzern gefährlich. Effie spurtet zu mir und drückt mich fest an sich, doch sie achtet darauf, dass sie mir nicht weh tut. „Es ist auch immer wieder schön dich zu sehen, Haymitch“, antworte ich. In meiner Stimme schwingt ein leicht gehässiger Unterton mit. Haymitch stützt sich mit beiden Händen auf die glänzenden Metallstangen am Ende meines Krankenbetts und funkelt Peeta und mich an. „Ihr sucht euch echt bescheidene Augenblicke für so etwas aus. Ihr hättet es uns doch wenigstens der Regierung sagen können, dann wäre das alles wohl nicht in so einer Katastrophe geendet.“ Er schnaubt. Effie legt ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter, doch Haymitch scheint sie nicht zu registrieren. „Wir wissen erst seid wenigen Stunden, dass wir noch ein Kind bekommen und wir sind auch nicht davon ausgegangen, dass es Zwillinge werden würden.“ Haymitch rauft sich die Haare und geht nun ungeduldig im Zimmer umher. Er scheint sich etwas abreagiert zu haben. „Jetzt müssen wir uns zwingend etwas anderes überlegen. Nach dem Regelwerk muss Katniss als Mentorin in die Arena, aber das ist in ihrem Zustand ja nur zumutbar. „Was für ein Zustand denn bitte?“ ich bin ärgerlich. Haymitch schnaubt: „Was für ein Zustand, fragt sie. Süße, begreif es! Du bist schwanger! Schwanger! Wenn man dich in die Arena schicken würde, wäre das der reinste Selbstmord, für dich und für das Kind. Du wirst irgendwann nicht mehr kräftig genug sein, um dich gut genug um deine Tributin und dich kümmern zu können.“ Das reicht mir. Ich schwinge meine Beine aus dem Bett. Ich werde ihm jetzt zeigen, dass ich trotz meines Zustandes, wie er es nennt, immer noch gut genug bei Kräften bin. Ich reiße mir den Venenkatheter heraus, der an der Unterseite meines Handgelenkes angelegt ist, heraus, es fängt sofort stark an zu bluten. Effie schreit auf, Peeta und Haymitch sind still, sie sind wohl einfach geschockt von meiner heftigen Reaktion. Ich bin noch durch einige weitere Kabel mit diversen Geräten verbunden, auch diese reiße ich hemmungslos ab. Als Reaktion darauf fängt nahezu alles laut an zu piepen und zu zischen. Ich stehe auf und will zur Tür rennen, doch schon nach zwei Schritten knicken meine Beine unter mir weg, ich beginne zu schreien. Ich bin verzweifelt, ich bin einfach zu schwach, Haymitch hatte recht. Ich habe nicht bemerkt, dass ein halbes Dutzend Ärzte in mein Krankenzimmer gestürmt ist. Als jemand eine Beruhigungsspritze in meine Arm jagt, wir alles schwarz um mich herum.
Ich wache mit einer Beatmungsmaske auf. Das Gummi fühlt sich zu eng um meine Kopf an. Ich versuche die Maske abzustreichen, doch zwei kühle, raue Hände rücken sie wieder an den richtigen Platz zurück. Peeta. Er ist da, um auf mich aufzupassen, um mich vor meinen Panikattacken zu schützen. Doch es fühlt sich alles so an, wie in meinen schlimmsten Erinnerungen: die Rebellion, meine seelischen und körperlichen Verletzungen. Nur, dass Peeta da ist und dass er mich nicht hasst. Zu meiner eigenen Beruhigung fange ich an zu singen. Das hat mich schon immer von der Welle der Panik heruntergeholt.
Auf dieser Wiese unter der Weide, Ein Bett aus Gras, ein Kissen wie Seide. Dort schließe die Augen, den Kopf lege nieder. Wenn du erwachst scheint die Sonne wieder.
Erst, als ich die erste Strophe gesungen habe, merke ich, dass ich das Berglied singe. Das Lied sang ich schon für Prim, für Rue und für meine Kinder. Jetzt singe ich es nicht mehr für mich, ich singe es für das Kind, dass noch keine Möglichkeit hatte, diese Welt zu sehen. Für das Kind, dass seinen Zwilling verloren hat. Tränen steigen mir in die Augen, es fühlt sich so an, wie damals in der Arena, als ich Rue in den Tod sang. Trotzdem singe ich tapfer weiter.
Hier ist es sicher, hier ist es warm, Hier beschützt dich der Löwenzahn. Süße Träume hast du hier und morgen erfüllen sie sich. An diesem Ort, da lieb ich dich.
Auf dieser Wiese, im tiefen Tal, Ein Blättermantel, ein Mondenstrahl. Dort vergiss den Kummer, leg beiseite die Sorgen. Fortgespült sind sie am Morgen.
Hier ist es sicher, hier ist es warm, Hier beschützt dich der Löwenzahn. Süße Träume hast du hier und morgen erfüllen sie sich. An diesem Ort, da lieb ich dich.
Ich singe dieses Lied für den toten Zwilling, für das Kind, dass ich noch nicht einmal kennenlernen durfte. Eine Träne rinnt aus meinem Augenwinkel in meine Haare, die sich um meinen Kopf herum kräuseln. Peeta streicht sie liebevoll beiseite, sagt jedoch nichts. Nach einer Weile kommt eine Krankenschwester ins Zimmer. Sie ist sehr freundlich und mit ihrer und Peetas Hilfe schaffe ich es, auf Krücken drei Mal im Gang hin und herzugehen. Wir unterhalten uns über banale Dinge wie das Wetter, aber ich bin auch froh, dass ich mal wieder mit einer fremden Person sprechen kann. Ich muss jämmerlich aussehen, aber beide sind besorgt um meine Wohlbefinden und nach der zweiten Runde bin ich schon außer Atem. Vielleicht hatte Haymitch doch recht. Aber ich muss einfach bis zu den Spielen wieder zu Kräften kommen. Das Essen im Krankenhaus ist spartanisch dafür, dass ich mich im Kapitol befinde, doch ich stopfe alles in mich hinein. Zum einen, weil ich wirklich Hunger habe, zum anderen, weil ich wenigstens etwas Speck bis zu den Spielen ansetzen muss. Der Arzt kommt am Abend vorbei, tastet kurz meinen Bauch ab und fühlt meinen Puls. Dann kommt er zu dem Schluss, dass ich morgen früh ins Trainingscenter ziehen kann. Die einzige Voraussetzung ist, dass ich versuche, mich zu entspannen, so gut es eben zu dieser Zeit geht. Als Peeta fragt, ob ich mit in die Arena muss, seufzt der Arzt laut. „Meiner Meinung nach währe das keine Optimale Lösung für Mutter und Kind, nur leider kann ich da nichts machen.“ Er hat also versucht sich für uns einzusetzen. Ich bin ihm dankbar dafür, auch, wenn es nicht geklappt hat. Peeta bleibt die ganze Nacht bei mir.
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